A review by queen_in_yellow
Nach Mitternacht by Irmgard Keun

dark reflective sad fast-paced
  • Plot- or character-driven? A mix
  • Strong character development? N/A
  • Loveable characters? It's complicated
  • Diverse cast of characters? No
  • Flaws of characters a main focus? No

5.0

Es gibt selten Bücher, die mich auf Anhieb so begeistern, dass ich sie schon weiterempfehle, bevor ich sie überhaupt zu Ende gelesen habe. "Nach Mitternacht" ist so ein Buch. Es fühlt sich wirklich seltsam an, das über ein Buch, das in der NS-Zeit spielt zu sagen, aber ich habe mich schon lange nicht mehr so gut unterhalten gefühlt.
Keun erzählt vom Alltag in Deutschland 1936, von den Menschen und den Widersprüchen, die sie in sich vereinen. Ein ehemaliger Sozialdemokrat, der jetzt Hitler verehrt. Der jüdische Exporteur und Geschäftsmann, der noch unbehelligt sein Geschäft fortführen darf und das schon "ganz richtig" findet mit dem Antisemitismus, schließlich gäbe es ja auch ganz viele kriminelle Juden. Die Mutter, die den Sohn jederzeit in den Krieg und damit Tod schicken würde, aber wehe eine andere Frau wagt es, in sein Leben zu treten. Man könnte die Liste lange fortführen. Dabei wird aber kein einziges Mal der moralische Zeigefinger erhoben, die Menschen werden einfach so dargestellt wie sie eben sind und so manche Persönlichkeiten würde man unverändert auch im Jahr 2024 so wiederfinden.

Aufgrund der Erzählperspektive aus Sicht einer jungen Frau ohne akademische Bildung findet Keun eine bestechend einfache Sprache, die aber gerade deswegen direkt ins Ziel trifft. Lakonisch, nonchalant und mit scharfem Humor skizziert sie Vorgänge. Nichts ist akademisch verschwurbelt, trotzdem sprüht der Text vor Intelligenz. Man fängt an, sich Zitate zu notieren und stellt schnell fest, dass eigentlich fast das ganze Buch zitierwürdig wäre. Und man möchte es den AfD-Wählenden und rechte Umtriebe Relativierenden von heute geradezu um die Ohren hauen. 
Wenn Susanne und ihre Freund:innen den Führer lächerlich machen, verliert er etwas von seinem Schrecken. Trotzdem ist das Grauen immer da, es schwelt im Hintergrund und bricht sich zwischendurch immer wieder Bahn, in kleinen Szenen, die zwar satirisch überspitzt sind, einen aber trotzdem bis ins Mark treffen, weil Satire eben auch immer einen Kern Wahrheit enthält.
Ein kleines Kind fällt tot vom Stuhl, während es ein Gedicht für den Führer vorträgt. Eine alte Frau schleppt täglich einen Koffer randvoll mit Butterbroten ins Büro der Gestapo, für den Sohn der im KZ ist und über dessen Verlust sie den Verstand verloren hat.


Ich kann das Buch uneingeschränkt jedem empfehlen, vor allem denen, die angesichts der aktuellen deprimierenden politischen Lage vielleicht erst recht keine Lust empfinden, Bücher zu dem Thema zu lesen. Ich hatte mich auch durchgerungen und habe es nicht bereut. Mit knapp 200 Seiten ist es auch schnell getan. Damit gehört der Roman für mich auch zu den Büchern, die gerne noch ein wenig länger hätten sein dürfen.

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