A review by takeruoji
Traurige Tropen by Claude Lévi-Strauss

5.0

Obwohl klar war, dass dieses Buch, da in meiner Bibliothek, irgendwann gelesen werden wird, so war der akute Anlass es jetzt zu tun das Sammeln von Zitaten über Feldforschung für ein Projekt. Und obwohl ich nicht unbedingt an Ethnologie im engeren Sinne (also Begebenheiten von indigenen Völkern) interessiert war, so war das Buch dennoch ein außerordentlich und überraschender Genuss. Man sieht wieder, was für Vorteile es hat, wenn man grundsätzlich ohne Erwartungen durchs Leben geht :-)

Obwohl der Kern des Buches ein ethnologischer Bericht über vier indigene Stämme (von Völkern konnte man bereits in den 1930er Jahren nicht mehr sprechen, als Lévi-Strauss die Reisen unternahm) in Brasilien — den Caduveo, den Bororo, den Namikwara und den Tupi-Kawahib —ist, so ist das Buch doch viel mehr als dass. Neben autobiographischen Details und zahlreichen historischen Anekdoten über die Reise nach Brasilien geht der Autor detailliert auf die Reisestrapazen, die Vorbereitungen, das Reisen im Land und die zahlreichen Veränderungen und Modernisierungen in Brasilien, etwa in Rio de Janeiro, ein. Daneben gibt es auch Erinnerungen an vergleichbare Reisen nach Südostasien — Indien, Kashmir, Burma —, die interessante Vergleiche, aber auch Ähnlichkeiten zu Tage bringen. Immer wieder reflektiert Lévi-Strauss hochinteressant über Gesellschaften nicht nur in Brasilien, sondern in ganz Amerika (inkl. den „alterslosen“ US-amerikanischen Städten), und neben Einblicken in sein Verständnis von der Ethnologie und dem Leben des Ethnologen plädiert er immer wieder für ein Ende des Herabsehen des Westens auf andere Teile der Welt und deren Gesellschaften. In gewisser Weise reiht er sich so in eine Tradition ein, die später mit Edward Said einen gewichtigen Fürsprecher finden wird.

Ich bin wirklich sehr positiv überrascht von der Dichte und den zahlreichen Facetten dieses Buches. Erwartet habe ich mir (für mich) langweilige Beschreibungen indigener Völker (die dann im Buch vorhanden ganz und gar nicht langweilig waren). Bekommen habe ich Einblicke in die französische Gesellschaft, in das Reisen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in Entbehrungen, denen zahlreiche Menschen damals noch ausgesetzt waren, aber auch in eine teils wunderbar unberührte Natur (die bereits damals stark im Schrumpfen war), in zahlreiche exotische Geschichten über Glücksritter, vor allem aber die Tatsache, dass „Zivilisation“ nicht unbedingt etwas mit westlichem Fortschritt zu tun haben muss. „Zivilisation“ kann auch bedeuten, ohne Schrift und in Stammesform mehrere Jahrtausende als Gemeinschaft in einer sich rasch wandelnden Welt zu überleben.

Und so bleibt man am Ende doppelt traurig zurück. Einerseits traurig darüber, dass dieses Buch heute wie eine Erinnerung an eine vergangene Welt anmutet, in der die beschriebenen Eingeborenen weltweit nahezu komplett vom „weißen Mann“ ihres Lebensraumes beraubt und ausgerottet wurden. Traurig aber vor allem auch mit Lévi-Strauss, der mitansehen musste, wie bereits zu seiner Zeit die Mühlen der Zeit gnadenlos arbeiteten und die Anzahl der Eingeborenen innerhalb kürzester Zeit bereits damals im Schwinden war. Lévi-Strauss selbst berichtet in dem Buch von den zahlreichen Erkrankungen, denen die Einheimischen ausgesetzt waren und die nur mehr in geringer Anzahl am Leben waren.

Abschließend erscheint es wie eine Ironie des Schicksals, dass Lévi-Strauss gegen Ende seiner zweiten Brasilienreise, als er am Verlassen der letzten Überlebenden der im Buch vorgestellten Einheimischen ist, eine vier Monate alte Zeitung in die Hände fällt, die endgültig beweist, dass der „weiße Mann“ nicht zivilisierter ist als die eingeborenen „Wilden“. Inhalt der Zeitung: Das Münchener Abkommen und die Mobilmachung.