A review by pascalthehoff
Blutbuch by Kim de l'Horizon

5.0

Blutbuch nutzt verschiedene Sprachen, Regiolekte und Varietäten nicht nur, um Herkunft und Tradition zu vermitteln, sondern auch, um Tradition aufzubrechen und so ideologisch und literarisch progressive Gefilde zu erkunden. Perfekt also für einen Roman, der so radikal queer ist, dass es unglaublich scheint, dass er es auf die Shortlist des Deutschen Literaturpreises geschafft hat, wo dieser doch als so trocken-deutsch und konservativ gilt. (Nein, dass plötzlich auch häufiger Frauen den Preis gewinnen, reicht noch nicht, um als progressiv zu gelten, liebe Boomer.)

Während der ersten, sehr gemächlichen 70 Seiten ahnte ich noch nicht, wie viele Haken Blutbuch (das Blutbuch?) noch schlagen würde. Dass der Roman sich aber die Zeit nimmt, in den ersten Kapiteln Wurzeln zu schlagen, zahlt sich rückblickend aus. Umso überraschter war ich, als ich die letzten zwei Drittel des Buches in einem Rutsch verschlungen hatte.

Ich ziehe meinen Hut vorm seelischen Striptease, den Kim de l’Horizon in diesem sehr autobiographischen Roman hinlegt. Von der Selbstreflexion bis zu den Sexszenen ist Blutbuch unverblümt explizit und emotional wundgeschürft. Dabei ist es so kreativ, bildhaft und kunstvoll, dass der Schmerz und die pulsierenden Körper von den Seiten springen. Da kickt die „Liebe Oma“ als Adressatin vieler Passagen gleich ganz anders.

In einem seiner längeren Exkurse erkundet der Roman übermäßig detailliert die komplette weibliche Blutlinie der Familie der Hauptfigur. „Übermäßig“ ist in diesem Fall der springende Punkt, denn ja: Auch Frauen hatten vom Mittelalter bis zur ersten Welle des Feminismus aufregende Biographien – nur eben ganz andere als privilegierte Männer. Nur selten treffen sich historische weibliche Biographien auf einem solch goldenen Weg zwischen Detailgrad und überwältigender Masse verschiedener Schicksale.

Neben diesen angeschnittenen Themen sind da noch so viele andere spannende Gedanken, die Blutbuch in seinem ständigen Overthinking peripher wegsnackt. Als erster Akademiker in einer Familie mit Arbeiterhintergrund hat mich zum Beispiel der unausgesprochene Konflikt zwischen Hauptfigur und Mutter zu exakt diesem Thema über die gesamte Länge fasziniert. Doch nicht nur dazu hat Blutbuch messerscharfe Erkenntnisse parat; es platzt geradezu.