A review by travelartandbookblogger
Der Vorleser by Bernhard Schlink

4.0

Der Vorleser von Bernhard Schlink, dessen Schreibstil durch Wortschatz und Satzbau archaisch wirkt, erzählt zum einen die persönliche Geschichte einer außergewöhnlichen Beziehung, zum anderen beschäftigt sich der Roman mit der Zeit unmittelbar nach dem Nationalsozialismus und der allgegenwärtigen Frage nach Schuld und Täterschaft.

Michael Berg ist 15 als er die 36-jährige Hanna Schmitz kennen- und lieben lernt. Ihre Beziehung, die man aus heutiger Sicht als toxisch bezeichnen würde - da sie ihn des Öfteren psychisch erniedrigt, besteht aus gemeinsamem Baden, Sex mit anschließendem Kuscheln und vor allem auch daraus, dass er ihr vorliest. Niemand weiß von dieser Liebschaft, die eines Tages abrupt endet, weil Hanna sang- und klanglos verschwindet.

Im zweiten Teil ist Michael Berg Jurist und Hanna Schmitz als ehemalige SS-Aufseherin in Auschwitz Angeklagte.

„Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt und befolgt wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht, durchgesetzt und befolgt werden müßte [sic], wenn alles mit rechten Dingen zuginge?“

Sie wird schließlich zu lebenslänglicher Haft verurteilt und im dritten Teil nimmt Michael ihr auf Kassetten Hörbücher auf und schickt sie ihr ins Gefängnis.

„Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen.“

Ich fand es spannend, die Situation aus deutscher Sicht heraus literarisch verarbeitet zu lesen. Die Hilflosigkeit, Fassungslosigkeit, das Betäubtsein, die kollektive Schuld und Scham sind auf jeder Seite spürbar. Die Aufarbeitung, Aufklärungsarbeit, das Sichbewusstmachen und Sensibilisieren sind heute wichtiger denn je, damit so etwas nie wieder geschieht, damit sich keine gegenwärtige und zukünftige Generation überhaupt mehr der Frage ausgesetzt sehen muss: Was hätte ich getan.